Kinder anzubrüllen ist nicht toll. Die Kinder fühlen sich mies, man selbst fühlt sich hinterher mies und geholfen in der konkreten Situation hat das Schreien meist auch nicht. Trotzdem passiert es im Alltag immer wieder, jedem von uns. Warum eigentlich? Zu diesem Thema habe ich mit der Sozialpädagogin und vierfachen Mutter Claudia Stahl gesprochen. Sie hat gerade ein lesenswertes Buch geschrieben (Familie – Eine Gebrauchsanweisung. Was Eltern und Eltern zusammenhält. Beltz Verlag, 18,95 Euro) und sie vertritt interessante Ansichten zum Thema. Sie findet, dass Schreien nie ewas besser macht und dass Eltern sich selbst erziehen sollten, wenn sie immer wieder in die Brüllfalle tappen.
Wie das geht, erklärt sie hier im Interview.
Frau Stahl, die meisten Eltern wollen ihre Kinder nicht anbrüllen. Warum geschieht es trotzdem so oft?
Weil das Kind anders ist, als man es in diesem Moment möchte.Weil es sich anders verhält, als man es will. Und dieseTatsache löst unterschiedliche Gefühle in uns Eltern aus:Wut, Angst, Hass, Ohnmacht. Diese Gefühle sind für Eltern schwer auszuhalten. Und bevor man sie wirklich spüren muss, wird gebrüllt.
Um diese Gefühle zu übertönen?
Ja, wenn Eltern sich ohnmächtig fühlen, brüllen sie, um wieder die Macht über die Situation zu haben. ermeintlich.
Warum bringen uns unsere Kinder eigentlich so auf die Palme?
Weil man als Eltern sehr nah dran ist am Kind. Eltern haben eineVorstellung, bewusst oder unbewusst, wie ihr Kind sein sollte.
Gibt es auch Situationen, in denen das Brüllen gerechtfertigt ist?
Ja, wenn konkrete Gefahr droht und diese durch lautes Schreien abgewendet werden kann. Zum Beispiel wenn ein Kind auf die Straße zu rennt, dann ist Schreien notwendig, im Wortsinn. Aber Anbrüllen stumpft Kinder ab, wenn Eltern bei jeder Kleinigkeit laut werden, etwa wenn ein Glas umgefallen ist, dann nehmen die Kinder das Brüllen nicht mehr ernst und stumpfen ab.
Welche Botschaft wird durch Schreien an ein Kind vermittelt?
Ein Kind bekommt immer Angst, wenn es angeschrien wird. Brüllen ist psychische Gewalt. In Familien, in denen die Eltern selten laut werden,erschrecken die Kinder sehr und sie merken: Hier stimmt etwas nicht, jetzt ist hier was gar nicht mehr in Ordnung. Kinder, die eine Brüllkultur gewohnt sind, erleben das zwar auch als verletzend, sie haben sich aber mit der Zeit schon ein dickeres Fell zulegen müssen. Die meisten Kinder speichern das Brüllen aber als Ausnahme ab, und wenn die Eltern sich entschuldigen, können sie es auch richtig einordnen.
Sie raten also zur Entschuldigung?
Ja, eine ehrliche Entschuldigung ist ein gutes Mittel. So lässt sich die Verbindung mit dem Kind wieder herstellen und das Kind ist so wieder in einer liebenden Verbindung aufgehoben. Es merkt dadurch:Die Sache ist passiert, aber meine Eltern haben mich trotzdem lieb. Sie lernen, dass man Fehler auch wieder gut machen kann und dass auch die Eltern Schwächen haben.
Was ist die bessere Alternative zum Brüllen?
Der erste Schritt ist, sich den Ärger und die Enttäuschung bewusst zu machen und annehmen, dass mein Kind jetzt in diesem Moment so ist. Die negativen Gefühle sollten wahrgenommen werden, etwa mit dem Gedanken: Das darf jetzt so sein in mir, das ist in Ordnung. Es geht darum, mitfühlend mit sich selber zu sein.
Und dann?
Dann muss man üben, den Brüll-Impuls zu kontrollieren. Man muss sich selbst Zeit geben zwischen dem negativen Gefühl und dem Drang zum Schreien, sich bewusst machen, was in einem abläuft und an diesem Punkt eine Umleitung einbauen. Für eine Änderung des eigenen Verhaltens ist eine klare Absicht wichtig. Man sollte sich immer wieder sagen: Nur weil ich diese Gefühle habe, ist es kein Grund, mein Kind zu verletzen. Letztendlich geht es darum, sich selbst zu erziehen.
Wie klappt das konkret?
Jeder muss seine eigene Methode finden. Mehrmals tief durchatmen, bis zehn zählen, notfalls auch den Raum verlassen. Es geht um Wege, die verhindern, den Wutimpuls herauszulassen. Ich selbst bin in solchen Situationen immer eine Runde um den Block gegangen, dann wussten meine Kinder sofort was los ist.
Aber im Alltag klappt das leider nicht immer.
Das Interessante am Brüllen ist ja, vor Erwachsenen haben wir gelernt, uns zu kontrollieren. Vor dem Chef oder unserem Vermieter schreien wir nicht herum. Aber bei unseren Kindern passiert es.
Wie lässt sich das erklären?
Ich denke, das hat mit Hierarchievorstellungen zu tun. Viele Eltern wollen, oft auch unbewusst, über ihr Kind bestimmen.Aber in manchen Situationen hat man als Eltern eben keinen Einfluss. Und Schreien führt meist nicht zu dem Ergebnis, das man gerne hätte. Es macht nichts besser.
Sondern?
Schreien belastet und vergiftet die Atmosphäre. Die Kinder ziehen sich entweder zurück oder rebellieren. Und auf Dauer schneiden sie sich von ihren Eltern ab.
Trotzdem passiert es im Alltag immer wieder.
Es ist nicht einfach, mit den eigenen Wutimpulsen umzugehen. Erwachsene aber vor allem Kinder müssen das erst lernen. Und es ist die Aufgabe der Eltern, ihren Kindern das beizubringen. In meiner Beratungspraxis sagen Eltern oft: „Wenn mein Kind mit dem und dem aufhört, dann brauche ich auch nicht mehr zu brüllen.“ Aber das ist falsch. Nicht das Kind ist in derVerantwortung, sondern die Eltern. Man kann niemand anderen ändern, sondern immer nur sich selbst.
Das Gespräch erschien zuerst im Magazin des Kölner Stadt-Anzeigers, am 8.9.2015