Vor einiger Zeit hatte ich einen absoluten Horrortag. Erziehungstechnisch. Es war in den Ferien und es regnete in Strömen. Von morgens bis abends. Ich war mit dem Sohn (4) und meinem Vater (66) unterwegs, wir wollten ins Spieleland in unserem Möbelhaus. Dort wollte mein Sohn aber nicht mit seinem Opa herum laufen, sondern nur mit mir. Er wollte nicht alleine Trampolin hüpfen, sondern nur mit mir. Als sich ein anderer Junge vordrängelte, brach mein Sohn frustriert in Tränen aus. Und dann platzte meinem Vater der Kragen: „Das Kind braucht Grenzen, der macht ja was er will. Wie soll das werden, wenn er mal 12 ist?“ Die Standpauke tat weh, sie traf mich mitten ins Herz. Erziehungskritik von den eigenen Eltern zu bekommen, fühlt sich ungefähr so gut an, wie an einem randvoll gefüllten Windeleimer zu schnuppern. Auch, wenn diese teilweise berechtigt sein mag.
Der Tag war übrigens noch nicht zu Ende. Wir verließen das Spieleland, weil mein Sohn dort nicht spielen wollte (ich muss fairerweise dazu sagen, dass er nie gerne in solchen Hallen ist, aber wir Erwachsenen hatten gedacht, bei Regen wäre das doch eine nette Sache). Wir fuhren also alle drei gemeinsam in die Stadt, ich musste dort noch Sachen erledigen.
Kollaps an der Kasse
Im Rewe bekam mein Sohn dann an der Kasse vor dem Süßigkeitenregal einen Tobsuchtsanfall. Er wollte die roten Skittles haben, die ich ihm natürlich nicht gekauft habe. Der Sohn geriet außer sich und schlug um sich. Die Leute an der Kasse beäugten uns unverhohlen interessiert. Nur durch mein innerlich vorgesagtes Mantra „ich bin ein Gänseblümchen im Sonnenschein“ gelang es mir trotz meines Pulses von 180, einigermaßen ruhig zu bleiben und das Kind ebenfalls zu beruhigen. Oberflächlich zumindest.
Kein Bock auf Spieleland und Spieleecke
Wir gingen in ein Cafe mit hübscher Spieleecke, damit das Kind endlich spielen konnte. Aber das Kind wollte nicht spielen. Er trauerte immer noch den verpassten Skittles nach und weinte mittellaut vor sich hin. Die Bedienung sagte so etwas wie: „Kinder, die weinen, kann man nicht mit ins Cafe nehmen.“ Mein Vater sagte: „Du tust alles für ihn und er weiß das gar nicht zu schätzen. Du musst etwas ändern. Das Kind braucht Grenzen.“ Der Regen draußen wurde immer heftiger. Ich verspürte den großen Wunsch, mich wegzubeamen, an irgendeinen sonnigen Strand dieser Welt.
Wir verließen das Cafe und brachen auf zum 93. Geburtstag meiner dementen Oma im Altenheim (über Kinder im Altenheim habe ich hier schon mal geschrieben). „Wir fahren besser mit zwei Autos. Das klappt ja heute alles nicht“, wutschnaubte mein Vater. Doch siehe da: Der Besuch bei meiner Oma verlief bilderbuchreif, sie hat sich sehr gefreut und mein kleines Tyrannenkind nahm auf dem Rückweg sogar ihre Hand. Sie im Rollstuhl, er an ihrer Hand daneben. „Du kannst mit meinen Playmobilfiguren spielen“, hatte er im Cafe noch zu ihr gesagt. Es war so rührend, dass es mir das Herz zusammenzog.
Und trotzdem habe ich noch lange über diesen Tag nachgedacht. Denn: Mein Vater hatte in manchen Punkten recht. Konsequent Grenzen zu setzen, das fällt mir im Alltag manchmal schwer. Weil mein Sohn dann anfängt zu quengeln und mich dann schnell weich werden lässt. Kinder wissen ja intuitiv, welche Knöpfe sie bei ihren Eltern drücken müssen. Dabei ist mir völlig bewusst, dass Eltern führen mussen und wie wichtig klare Ansagen sind. Und natürlich brauchen Kinder Grenzen. Wenn er so in Rage ist, dass er haut und andere beschimpft, das geht gar nicht. Das lasse ich auch nicht zu.
Das Trotzen ist jetzt anders
Dennoch finde ich es momentan (er ist 4) nochmal schwieriger als mit 3. Mit 3 kamen seine Trotzanfälle, weil ich sein Brot falsch durchgeschnitten hatte, weil er die Schaufel im Sandkasten nicht gekriegt hat oder eben wegen der Süßigkeiten an der Kasse. Jetzt haben diese Ausraster nochmal eine andere Qualität, finde ich. Ich merke, dass er unbedingt seinen Willen durchsetzen möchte, und dabei geht es nur nebensächlich um die Sache. Es ist mehr wie ein Machtkampf mit mir ums Prinzip.
Ich hab mich ein bisschen eingelesen ins Thema. „Nein aus Liebe“ von Jesper Juul ist ein gutes Buch. Er empfielt, klare und vor allem persönliche, authentische Ansagen zu machen. Nach dem Motto: „Nein, ich möchte dir heute kein Eis kaufen.“ Oder: „Nein, ich möchte jetzt nicht mit dir spielen. Ich möchte mich erst ausruhen.“ Im akuten Wutanfall bringt das allerdings auch nicht viel.
Dann hab ich mir das vielgescholtene Buch von Herrn Winterhoff vorgeknöpft: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden.“ Und ich muss sagen, ich finde das Buch bisher ziemlich gut. Ich bin zwar erst am Anfang, er berichtet aus seiner Kinder- und Jugendtherapie-Praxis. Warum das Buch von vielen Eltern so verteufelt wird, ist mir bisher zumindest nicht ersichtlich. Was er schreibt, klingt gar nicht so abwegig.
Und dann habe ich diesen interessanten Artikel aus dem schönen Blog „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ gefunden. Die Autorin schreibt sinngemäß: Gerade Kinder, die in den ersten Jahren besonders liebevoll aufgewachsen sind, verhalten sich im späteren Kleinkindalter oft besonders renitent. Wer dagegen schon früh von den Eltern hart in die Schranken gewiesen wurde, ist eben schon früh daran gewöhnt und reagiert entsprechend.
Sie zitiert in ihrem Text ebenfalls Herrn Juul aus Dänemark und schreibt. „Zeigt ein Kind aggressives Verhalten, muss immer der Erwachsene alles daran setzen, die Beziehungsqualität zu verbessern und herauszufinden, warum sich das Kind im Moment als wertlos empfindet. Ein hauendes, beißendes, spuckendes Kind, das nicht mehr nur im Affekt agiert, sondern absichtlich, sendet immer das Signal: „Mir geht es nicht gut. Hilf mir!“ .“ Es geht also im Kern um das Gefühl, sich wertlos zu fühlen. Der Artikel ist insgesamt sehr lang, aber sehr lesenswert.
Ach ja, das Thema Grenzen setzen beschäftigt mich, seitdem ich Mutter bin. Und momentan besonders stark. Ich gebe zu, den absoluten Stein der Weisen diesbezüglich habe ich noch nicht gefunden. Es ist wohl wie mit so Vielem beim Leben mit Kindern: ein Prozess, eine Reise, eine Weiterentwicklung, gerade für uns als Eltern. Wie ist das bei euch? Wie handhabt ihr das? Viele Grüße, Christina
Liebe Christina, ich kann den Stress, den du hattest, so richtig nachempfinden. Nichts habe ich damals so anstrengend empfunden, wie mit meinen kleinen Kindern bei meinen Eltern oder Schwiegereltern zu sein oder Zeit zusammen zu verbringen. Man ist wieder Kind und gleichzeitig Mutter, will die alten Konzepte nicht mehr, aber auch nicht die Eltern dafür abwerten … Die alten Contexte springen wieder an, man ist innerlich total zerrissen, kann es der alten Generation nicht Recht machen und dem Kind auch nicht. Man grenzt sich ab, die Stimmung wird frostig und die Kinder drehen noch mal richtig auf, als hätten sie es darauf abgesehen, dass der Deckel vom Topf fliegt. Hiermit nehme ich mir fest vor, meinen Kindern den Rücken zu stärken, wenn sie eines Tages Kinder haben, dass ich sie unterstütze, wenn sie Probleme mit ihren Kindern haben, egal ob ich ihr Verhalten gerade richtig oder falsch finde. Was ist schon richtig und falsch?
Vielen Dank für deinen Bericht und herzliche Grüße
Uta
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Danke dir Uta, so im Detail habe ich das noch nie betrachtet, aber du hast absolut recht. Wenn die eigenen Eltern dabei sind, ist man zeitgleich in der Mutter-und-Tochter-Rolle, will dass alles harmonisch ist, dass alles klappt, und oft geht es gerade dann nach hinten los. Ich habe mit meinem Vater inzwischen mehrmals über den Tag gesprochen und mich ihm gegenüber auch klar positioniert, vor allem zu seiner Art der Kritikäußerung. Erziehungskritik geht immer ans Herz, gerade von den eigenen Eltern. Ich bin mir sicher, deine Kinder werden es später, wenn sie selbst Eltern sind, mit dir als Oma sehr gut haben. Du kannst dich also schon jetzt auf die Enkel freuen 🙂 Liebe Grüße, Christina
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Liebe Christina! Beim Lesen deiner Zeilen finde ich mich grad wieder. Ich wollte und will immer eine besonders „gute Mutter“ sein, und das hiess für mich eben auch, meinen Kindern viele Wünsche zu erfüllen, sie einzubeziehen, Dinge MIT ihnen zu machen, etc. Irgendwann habe ich festgestellt, dass dabei weder Kind noch Mutter profitieren. Im Gegenteil; mich dünkte, je mehr ich „für sie“ machte, erlaubte, zugestand, desto undankbarer und fordernder wurden die Kinder (ich habe vier zwischen 8.5 und 3 Jahre). Für mich persönlich ist nach langem (langem!) Suchen die Vertrauenspädagogik ans Herz gewachsen. Vieles davon lehnt sich an Jesper Juul an. Es geht darum, mit den Kindern in „Join up“ zu sein, und das bedingt klar zu führen (die Hierarchie ist geregelt, ebenso die Bedürfnislage, das heisst: mein Kind weiss, dass es in einer vertrauensvollen Beziehung von mir abhängig ist, nicht ich von ihm (oder von seinen Launen, seinem Gehorsam, etc.)). Ich bin täglich am Üben, mache viele Fehler, manchmal etwas gut; es ist ein bisschen ein Vorwärts-Tasten. Klar ist mir: Wenn ich klar und liebevoll führe, gebe ich dem Kind Sicherheit und Grenzen in Geborgenheit. Je mehr ich zu mir stehe (à la „ich möchte jetzt nicht spielen“), desto besser geht es mir.
Danke für deine Ausführungen. Ich mag deinen Blog!
Herzliche Grüsse Sonja
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Liebe Sonja, genau so kommt es mir auch vor: je mehr ich erlaube, mache und zugestehe, desto fordernder und quengeliger wird das Kind. Das mit der Vertrauenspädagogik klingt interessant, kannst du mir ein Buch oder eine Website zu dem Thema empfehlen? Danke für deinen Kommentar und dein nettes Kompliment. Viele Grüße, Christina
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Liebe Christina, das Buch heisst „Erziehen im Vertrauen“ und ist von Heinz Etter (CH). Es gibt auch eine Website mit einem Forum: http://www.vertrauenspaedagogik.ch. Es ist (für mich) ein Umdenken: Vom Gehorsam zur Beziehung, und das in einer hierarchisch geklärten Verbindung. Herzliche Grüsse Sonja
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Danke Sonja, das werde ich mir anschauen. Klingt wirklich interessant. Viele Grüße, Christina
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