Auf meinen Blog-Text „Schulzeugnisse früher und heute“ habe ich viele persönliche Mails und Kommentare von euch bekommen. Daraufhin habe ich meine Freundin Julia um eine Einschätzung des Themas aus Lehrerinnensicht gebeten. Sie hat in einem sehr persönlichen Gastbeitrag aufgeschrieben, warum Text-Zeugniss ihren Sinn oft verfehlen – und weshalb genau diese Zeugnisse ein treffendes Beispiel sind für die Probleme in unserem aktuellen Schul- und Bildungssystem. Lest hier, warum Lehrer oft an ihrem Job verzweifeln – obwohl sie ihn eigentlich lieben.
Textzeugnisse – Gedanken zu Kompetenzen und Inkompetenzen unseres „Bildungs“-systems
Hier schreibt Julia, eine erfahrene Lehrerin in der Sekundarstufe 1:
Als ich Christinas Text zum ersten Zeugnis ihres Sohnes und die Leserkommentare dazu las, war es wieder da: das beklemmende Gefühl, das ich hatte, als meine Tochter vor einem Jahr eingeschult wurde. Auch meine gerade Siebenjährige hat vor wenigen Wochen also ihr erstes Zeugnis mit nach Hause gebracht. Und ich hatte mich gefragt, was dort wohl über sie und ihre Leistungen stehen wird – aber vor allem, wie es ihr damit ergehen würde, falls es nicht so ausfällt, wie sie es erwartet.
Zeugnisse sind eine emotionale Angelegenheit
Als Mutter ist man natürlich aufgeregt bei all den ersten Malen und dazu kommt die Sorge, das Kind könnte von jemandem negativ gesehen oder beurteilt werden. Emotional also eine heikle Angelegenheit – nicht nur für die Kinder, die gerade erst in das schulische Lernen und Leisten hineinwachsen, sondern auch für uns Eltern. Außerdem fragte ich mich, ob die Klassenlehrerin meiner Tochter das kann, Textzeugnisse schreiben. Sie ist erfahren, wirkt kompetent, aber zum Schreiben von Textzeugnissen gehört so einiges. Nicht nur der positive Blick auf das Kind oder den Jugendlichen und die Fähigkeit zur Diagnostik, Ahnung von Entwicklungspsychologie und Lernzielen des jeweiligen Jahrgangs und Fachs, sondern auch das Formulieren solcher Textsorten muss man beherrschen. Es kostet viel Nerven, Zeit und Knowhow, ein gutes Textzeugnis zu verfassen. Und das weiß ich, weil ich selbst Lehrerin bin und in meinem Beruf gelegentlich selbst solche Zeugnisse oder Textpassagen, die in diese Zeugnisse eingefügt werden sollten, verfassen musste. In meinem Studium habe ich gelernt, worauf es dabei ankommt – theoretisch zumindest.
Mutter und gleichzeitig Lehrerin zu sein ist nicht immer einfach
Manchmal macht es mir die Tatsache, dass ich als Mutter selbst Lehrerin bin, leichter. Ich kenne das System, viele Abläufe, noch dazu weiß ich, dass meine Tochter das große Glück hat, in eine gute Schule gehen zu dürfen, mit langer Tradition, schönem Gebäude und engagiertem Team. Manchmal allerdings macht es mir die Sache schwerer. Und das weiß ich seit diesem ersten Schultag, als ich plötzlich überrascht wurde von meinen Gefühlen. Da stand sie nun, aufgeregt und so groß und klein zugleich, mit Schultüte und der ersten Zahnlücke. Und ich – ich schickte sie mitten hinein, wissentlich mitten hinein – in die Bildungsmisere. Und da stieg eine Traurigkeit in mir hoch, die nichts mit dem Loslassen des Kindes zu tun hat, wie man es immer fühlt bei den ersten Malen, wenn sie uns wieder ein Stück entwachsen. Das war anders.
Wird jemand mein Kind so sehen, begleiten, fordern und fördern wie sie es verdient hat? Wird jemand ihre Fragen so beantworten, dass sie Lust auf mehr bekommt? Wird jemand ihr Mut machen, wenn sich innen alles nach Aufgeben anfühlt? Wird jemand sie trösten, wenn sie scheitert? Wird jemand ihr helfen, ihre Talente zu entdecken und zu entfalten und ihre Schwächen anzunehmen (und trotzdem an ihnen zu arbeiten)? Wohl kaum. Und ich kann es den Lehrerinnen und Lehrern nicht mal übel nehmen. Ich weiß ja, wie es ist. Ich weiß ja, wie es sich anfühlt, Teil dieser Bildungskrise zu sein. Aber zurück zu den Textzeugnissen – die und der Umgang mit ihnen sind nämlich ein Beispiel dafür, was in unserem Land leider schief läuft in Sachen Bildung.
Warum überhaupt Textzeugnisse?
Textzeugnisse werden in der Regel in der Schuleingangsstufe geschrieben, also in Jahrgang 1 und 2. Außerdem werden sie für Förderschüler/innen geschrieben und auch an Waldorfschulen sind sie, als Ergebnis kritischer Auseinandersetzung mit den Ziffernnoten, Alltag. Ziel der Texte ist, weg zu kommen von einem reinen Bewerten der Leistung und hin zu mehr sinnvoller, ganzheitlicher Diagnostik. Das heißt, man möchte damit erreichen, dass Schülerinnen und Schüler und deren Eltern nicht nur über den Leistungs-, sondern über den gesamten Entwicklungsstand informiert werden. Man möchte so helfen, die Entwicklung des einzelnen Kindes zu fördern, die Zusammenarbeit mit Elternhaus und in multiprofessionellen Teams (Therapien, Beratung, usw.) zu verbessern.
Textzeugnisse vs. Ziffernzeugnisse
Eine Freundin, selbst Lehrerin, schrieb mir letztens zum zweiten Zeugnis ihrer Tochter: „Weißt du, Noten wären mir lieber. Das ist alles so nichtssagend. Und ich habe nicht das Gefühl, dass die Lehrerin meine Tochter so richtig im Blick hat. Gut, dass es nächstes Jahr endlich Noten gibt!“ Die (vielseitige) Kritik an Noten ist z.B. die relative Beliebigkeit, die persönliche Beurteilung des Lehrers kann sehr unterschiedlich ausfallen, wird zur Selektion ge- und gelegentlich auch missbraucht und gaukelt eine Vergleichbarkeit nur vor. Stimmt. Niemand weiß das besser als Lehrer/innen selbst.
Aber sind Textzeugnisse so viel besser? Genau wie bei den Ziffernnoten gibt es auch genaue Vorgaben für das Erstellen von Textzeugnissen. So sollen sie z.B. nicht in Noten übersetzbar sein, also sich wirklich vom Bewerten der Leistung abheben. Sie gehen auf verschiedene Bereiche ein, sollen z.B. auch über Sorgfalt, Leistungsbereitschaft und Sozialverhalten informieren und sollen vor allem ermutigen, sollen das Weiterlernen unterstützen. Das sagt zumindest das Schulgesetz, das sich übrigens sehr vernünftig liest und den Eindruck erweckt, man habe tatsächlich die ganzheitliche und individuelle Entwicklungsbegleitung im Blick. Aber sieht nicht jeder Lehrer, jede Lehrerin, etwas anderes in jedem Schüler, jeder Schülerin? Wie geht das bei Anerkennung individueller Lernwege, Begabungen und Herausforderungen?
Theorie und Praxis klaffen oft weit auseinander
Als ich studierte, stellten die ersten Bundesländer gerade von Lehr- auf Bildungspläne um, begann man, Lernziele zu formulieren, um individuelle Lernwege zu ermöglichen, wollte man die Kompetenzorientierung umsetzen. Man wollte der Individualisierung Rechnung tragen, die Schulabgänger sollten den vielfältigen Anforderungen des Arbeitsmarktes und dem immer komplexer werdenden Leben in unserer bunten, modernen Gesellschaft gewachsen sein. Das erforderte von Lehrerkollegien eine unfassbare Kehrtwende, nicht nur mussten neue Papiere und Konzepte erstellt werden (in vielen Schulen ist dieser Prozess noch immer nicht abgeschlossen!), auch musste man im Schulalltag (eigentlich) komplett umdenken.
Denn wo viele Wege zum Ziel führen, da muss man individuell begleiten, Raum und Zeit schaffen. Für moderne und kreative Methoden, kollegialen Austausch zum Beispiel. Man muss Lehrer/innen Zeit geben, umzudenken, sie fort- oder ausbilden z.B. im Bereich der Diagnostik, der Entwicklungs- und Lernpsychologie, ihnen verschiedene Unterrichtsmethoden zeigen und sie inspirieren, diese auch ganz praktisch im Unterricht einzusetzen. Man muss Inhalt reduzieren (das war eines der Ziele der neuen Bildungspläne), um pädagogische Freiheiten und die Entwicklung spezieller Schulprofile zu ermöglichen. Denn nur mit eben solcher Freiheit kann man reagieren auf 30 Individuen, denen man als (Klassen-) Lehrer/in gerecht werden muss. Möchte. Aber wie?
Wie kann ich als Lehrerin 100 Kinder und Jugendliche individuell begleiten?
Als Lehrerin, je nach Schulform und zu unterrichtendem Unterrichtsfach, kann es sein, dass man deutlich über 100 Schüler/innen pro Schuljahr unterrichtet und in ihrer individuellen Entwicklung begleiten soll. (Text-)Zeugnisse schreibt man zwar nur für die eigene Klasse, aber alle, die man unterrichtet, sollen ja so individuell behandelt und begleitet werden (und die Textpassagen fürs Zeugnis im jeweiligen Fach gibt man als Fachlehrer/in an den Klassenlehrer bzw. die Klassenlehrerin weiter).
Wie Christina in ihrem Text bereits feststellte – die Zeugnisse wuchsen durch die Neuausrichtung, wurden immer detaillierter, komplexer, vermeintlich aussagekräftiger… Eine klare Überforderung für fast alle Lehrer/innen. Selbst ich, die als junge Lehrerin aus dem Studium mit dem neuen Denken, der Kompetenzorientierung und den Bildungsplänen vertraut war und nicht z.B. auf plötzlich veraltete Stundenentwürfe und Materialien zurückgreifen konnte, stand vor einem großen Fragezeichen, als ich meine erste Stelle antrat. Wie um alles in der Welt sollte ich den Schülerinnen und Schülern, mir selbst und diesem großen neuen Konzept vom individuellen Lernen und Lehren gerecht werden?
Orientierungslosigkeit, Burnout, das große Wollen-und-nicht-Können: Das ist heute Schul-Alltag
Und bis heute ist es so geblieben. Ich liebe meinen Beruf und hadere gleichzeitig jeden Tag damit, Lehrerin zu sein. Wenn ich die Zahlen der burnouterkrankten Kolleg/innen sehe, wundert es mich nicht, auch nicht, wenn ich wieder lese, dass eine Schule seit Jahren ohne Schulleitung ist, weil es keine Bewerber/innen gibt, wenn ich höre, wie viele Lehrer/innen fehlen. Auch die Schülerschaft leidet unter vermeintlicher Offenheit, die oft genug zum Chaos führt, Orientierungslosigkeit, großen Klassen, gestressten Lehrern, dem häufigen Wollen-und-nicht-Können, das heute eben Schulalltag ist. An Schulen mit gutem kollegialem Zusammenhalt, engagierter Elternschaft und mutiger Schulleitung wird trotz allem gute Schule gemacht. An anderen Schulen nicht.
Nichts lernt langsamer als unser „Bildungs-“system…
Seit langem wissen wir:
- Erziehung geht nur durch Beziehung. Wir lernen nur gut von jemandem, den wir als kompetent erleben und zu dem wir eine Bindung haben.Daher stimmt auch:
- Bindung und Bildung gehören zusammen. Warum dann so große Klassen, so viel Überforderung durch wechselnde Lehrer/innen bzw. viele oder wechselnde Lerngruppen?
- Gute Bildung braucht Zeit, Raum und Professionalisierung, um individuell zu fordern, zu fördern, zu begleiten (und hilfreiche Textzeugnisse zu verfassen und sinnvolle, ganzheitliche Entwicklungsgespräche mit Eltern zu führen!) – warum teils heruntergekommene, für modernen Unterricht ungeeignete Schulgebäude, immer noch keine multiprofessionellen Teams, Lehrermangel?
- Psychologie und Pädagogik gehen Hand in Hand. Warum nutzen wir die Erkenntnisse der Entwicklungs-, Lern- und Motivationspsychologieso wenig in der Schule?
- Ganzheitlichkeit ist Ziel. Und wir pushen z.B. Digitalisierung, teils ohne Sinn und Verstand. An diesem aktuellen Beispiel ist zu sehen, dass zumindest einiges relativ zügig umsetzbar ist, wenn es politisch ins Konzept passt. In kürzester Zeit werden sogar marode Schulen mit modernster Technik ausgestattet. Dabei fehlt vielen Kindern etwas ganz anderes, ist Medienkompetenz nicht wirklich von dafür nicht ausgebildeten Lehrer/innen und durch noch mehr Kontakt mit Technik zu erlernen, sondern durch kritische Auseinandersetzung damit.
Was nun…?
Bildung verdient nur den Namen, wenn sie den ganzen Menschen im Blick hat. Laut Schulgesetz hat jedes Kind ein Recht nicht nur auf schulische Bildung, sondern auch auf individuelle Förderung. In Zeiten der (immer noch nicht ausreichend erfolgten) Umstellung auf Bildungspläne, Lernziele, Kompetenzorientierung und Individualisierung und in Hinblick auf die vielseitigen Herausforderungen der Integration und Inklusion sollte man kurz innehalten und überlegen – wie soll das gehen?
Warum gehen wir nicht für die Bildung unserer Kinder auf die Straße?
Eltern und Schüler/innen gehen zurzeit auf die Straße gegen den Klimawandel. Wäre gute Bildung nicht mindestens ein genauso guter Grund? Das Recht des Einzelnen, gesehen zu werden. Ganz (oder so nah wie möglich dran an „ganz“). Schüler/innen, aber auch Lehrer/innen mit ihrem Engagement für „ihre“ Kinder. Raum und Zeit für einander, für Beziehung, Bindung, Austausch, vielseitige Entwicklung. Um den Blick zu schulen, der das „Schülermaterial“ zum Individuum werden lässt, das begleitet und mit liebevollem Blick gefördert werden will.
Meiner Meinung nach müssen neben einer guten, den veränderten und sich stetig weiter verändernden Bedingungen des Berufs Rechnung tragenden Ausbildung der Lehrer/innen vor allem zwei Dinge passieren: Lerngruppen müssen deutlich kleiner werden und Kollegien müssen noch mehr zu multiprofessionellen, sich austauschenden und eng zusammenarbeitenden Teams zusammenwachsen (und beispielsweise Textzeugnisse gemeinsam schreiben, um sich in der Tiefe über den Schüler/die Schülerin auszutauschen, Blickwinkel in Frage zu stellen, gemeinsam Hilfen zu installieren).
Nur so kann man einzelne Menschen in ihrem Werden begleiten. Nur so kann enge Zusammenarbeit mit Team und Elternhaus helfen, individuelle Entwicklung zu fördern, kann umgesetzt werden, was Recht des Schülers/der Schülerin ist. Nur so machen auch Textzeugnisse wirklich Sinn.
Und was wäre das für ein Gefühl, mein Kind in eine solche Schule zu geben?
Und was für ein Traum, so arbeiten zu können!
Aber Kinder, was das kostet!…
Julia
Was ist eure Meinung zu Textzeugnissen und zu den Problemen in unserem Schulsystem?
Schreibt es gerne hier unten in die Kommentare oder an info@getrenntmitkind.de